Das Trauma sitzt tief. Wir haben uns wohl immer wieder selbst betrogen mit der Annahme, dass unsere Gemeinwesen im Grundsatz republikanisch und demokratisch funktionieren: dass es einen öffentlichen Raum gibt, in dem Fragen des Gemeinwohl nach bestem Wissen und Gewissens diskutiert werden, so dass es auf der Grundlage geteilter Einsichten möglich wird, gemeinsame Entscheidungen zu treffen, die auch Machtansprüche maligner Akteure oder Akteursgruppen systematisch zurückweisen oder zumindest beschränken können.
Diese Annahme verliert zurzeit massiv an Validität. Der öffentliche Diskursraum wird – offen und versteckt – mit Bullshit geflutet, mit Botschaften und Signalen, die nicht im Entferntesten auf das konstruktive bessere Argument und auf Einsicht abzielen, sondern darauf, aufgrund simpler psychologischer Mechanismen tribalistische Loyalitäten und Feindbilder zu generieren. Auf diese Weise entstehen unkontrollierte Handlungsräume, die sich die erwähnten malignen Akteure zunutze machen.
Interessant und bestürzend dabei ist, dass offenkundig auch die Betroffenen diesen Shift als vorteilhaft empfinden. Anders ist das Ausmaß und Tempo kaum zu erklären, mit dem Bullshit-Kampagnen (Brexit, Trump, Anti-Vaxx, etc.) große Bevölkerungsgruppen ohne jeden Zwang zusammengebracht und radikalisiert haben.
Viele von uns haben die bewusste Abkehr von Fakten und besseren Argumenten bis hinein in den eigenen Familienkreis erlebt und durchlitten. Ich glaube, wir sollten verstärkt auf die psychologischen und gruppendynamischen Aspekte dieser Phänomene achten: Welchen empfundenen Nutzen ziehen die Akteure aus ihrem Austritt aus dem rationalen Diskursraum?
Auf den ersten Blick scheint es mir hier Push- und Pull-Effekte zu geben:
- Push bedeutet, das republikanische Versprechen hat grundsätzlich enttäuscht, es wird nicht als Verlust empfunden, sich davon abzuwenden. Diese Enttäuschung kann auf mindestens zwei verschiedenen Ebenen empfunden werden. Erstens, der öffentliche politische Diskurs findet zwar statt, aber er hat zu wenig mit den konkreten Problemen der eigenen Lebenswelt zu tun und bietet zu wenige machbare Möglichkeiten der Teilhabe. Zweitens, auch dort, wo sich im öffentlichen Diskurs aufgrund belastbarer Evidenz klare Meinungsbilder ergeben, fehlt es an einer erkennbaren Umsetzung und Dynamik im politischen Prozess.
- Pull bedeutet, der anti-republikanische Impuls gibt ein Disruptionsversprechen und vermittelt ein Angebot der Zugehörigkeit. Ersteres wird in Ermangelung konkreter politischer Perspektiven begrüßt und mit der Erteilung einer (vorläufigen) Blankovollmacht quittiert: Ihr habt unser Mandat, den bestehenden Mistladen ordentlich aufzumischen, dann schauen wir weiter. Letzteres sorgt für einen nicht zu unterschätzenden Wohlfühlfaktor: Es bindet diffuse Frustrationsempfindungen und erzeugt über gemeinsame Feindbilder ein belastbares Wir-Gefühl.
Das ist so natürlich Küchenpsychologie, aber ich glaube, wir müssen in dieser Richtung schauen und mehr Zeit und professionelle Aufmerksamkeit investieren, wenn wir die aktuellen gesellschaftlichen Dynamiken verstehen und letztlich beeinflussen wollen. Die malignen Akteure haben hier einen Vorsprung, aber der muss nicht uneinholbar sein.
(To be continued.)
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