Heute jähren sich zum 30. Mal die grauenhaften Giftgasanschläge der japanischen Sekte Aum Shinrikyo auf U-Bahnen in Tokyo. Bei dem Attentat am 20. März 1995 hatten Mitglieder von Aum in mehreren U-Bahn-Waggons zur morgendlichen Rush Hour unter den Sitzen platzierte, mit Sarin gefüllte Plastikpäckchen mit Regenschirmen angestochen, und dann die Wagen verlassen. Das entströmende Gas tötete 13 Menschen und verletzte Hunderte, teilweise schwer. Das Ereignis hat die japanische Gesellschaft traumatisiert, der Erfolgsautor Haruki Murakami verfasste darüber ein Buch, in dem er um einer Aufarbeitung willen Interviews sowohl mit Opfern des Anschlags als auch mit Mitgliedern der Aum-Sekte präsentiert.
Während unseres Japanurlaubs im letzten Spätsommer hatte es uns wegen einer kleineren Besorgung in den ansonsten eher unspektakulären Tokyoter Stadtteil Karasuyama verschlagen. In der dortigen Einkaufsstraße fiel uns das folgende Textbanner auf.

Dank der Magie von Google Translate war eine Übersetzung schnell zur Hand:
Einwohnerrat für Gegenmaßnahmen im Karasuyama-Gebiet Aum Shinrikyo: Austreten und sich auflösen ist die einzig wahre Reue. Wir warten auf die Wiedereingliederung der Gläubigen in die Gesellschaft.
Der Grund für diesen ungewöhnlichen Appell ist, dass sich bereits im Dezember 2000, also gut fünf Jahre nach den Sarin-Attacken, hier im Stadtteil mehr als 100 Mitglieder der weiterhin existierenden Sekte, die sich jetzt offiziell ‚Aleph‘ nennt, niedergelassen hatten. Der Einwohnerrat ist eine Bürgerinitiative, die sich gegen diese Ansiedlung und die Kontinuität der Sekte wehrt.
Nach der Festnahme und Verurteilung des Sektenführers Shoko Asahara und anderer für die Anschläge verantwortlicher Mitglieder hatte die Sekte dauerhaft unter behördlicher Beobachtung gestanden. Dabei wurde deutlich, dass die Anhänger weiterhin den Lehren Asaharas folgten. Immer wieder wurden auch weitere Anschlagspläne der Sekte aufgedeckt. Im Jahr 2019, ein Jahr nachdem die meisten der zum Tode verurteilten Sektenmitglieder endlich hingerichtet worden waren, fuhr ein Aum-Anhänger in Tokyo aus Protest gegen die Exekutionen mit einem Auto in die Menge und verletzte 9 Menschen.

In den Tagen nach unserem Besuch in Karasuyama saß ich eines Abends allein zur Rush Hour in einem Waggon der von den Anschlägen betroffenen Maranuochi-Linie, die mit ihrem hufeisenförmigen Verlauf eine der Hauptschlagadern des Tokyoter Nahverkehrs ist. Ich war versehentlich in die falsche Richtung eingestiegen und statt in Shinjuku irgendwo in den Suburbs gelandet. So kam es, dass ich letztlich zweimal einen großen Teil der Linie abgefahren bin. In diesem überfüllten Zug zu sitzen und mir die damaligen Ereignisse vorzustellen, hat für mich dem Grauen des Attentats noch einmal eine ganz andere Anschaulichkeit verliehen.