Im Reich der Stabi

An den meisten Tagen schwinge ich mich gegen Mittag auf mein Fahrrad und fahre zu meinem selbstgewählten Arbeitsplatz, der Berliner Staatsbibliothek im Kulturforum an der Potsdamer Straße. Schon der Weg dahin ist eine Freude. Vom Kreuzberger Wasserfall aus nehme ich die Großbeerenstraße bis zur Kreuzung Yorckstraße, wo ich nach Westen in die Hornstraße einbiege. Diese kleine Allee ist als Verlängerung der Gneisenaustraße und Hinführung zur Bülowstraße ein Überbleibsel der schnurgeraden Südost-Nordwest-Verbindung, die der Stadtplaner Peter Joseph Lenné Mitte des 19. Jahrhunderts vorgesehen hatte. Die Eisenbahn und insbesondere der Potsdamer und der Anhalter Bahnhof mit ihren komplexen Gleisanlagen standen dem Plan buchstäblich im Wege, und so hat die Generalsachse jetzt einen Knick und nimmt ihren Umweg über Yorckstraße und Bülowbogen. Solche Dinge erfährt man in Kirsty Bells wunderbar durchnässter Stadtgeschichte The Undercurrents/Gezeiten der Stadt. Große Leseempfehlung.

Die Hornstraße bringt mich dann zum Gleisdreieck-Park, und an den Skate-, Streetball- und Fitnessanlagen vorbei, unter den Hochbahnbrücken hindurch schlängele ich mich zwischen Dutzenden von Spaziergängern nordwärts in Richtung Landwehrkanal und Potsdamer Platz. Kirsty Bell, die an diesem Abschnitt des Landwehrkanals lebt und ebenfalls gerne in der Stabi arbeitet, erzählt in den Undercurrents die vielen großen und kleinen Geschichten ihres Stadtteils und seiner Verkehrs- und Wasserwege. Ich habe das Gefühl, mein Arbeitsweg ist immer auch ein Ausflug durch ihr großartiges Buch.

In der Staatsbibliothek selbst habe ich mir lange meinen Platz in der höchsten Galerie des immensen Lesesaals gesucht. Dieser Balkon ist ein Aufenthaltsort der von Bruno Ganz und Otto Sander gespielten Engel in Wim Wenders Film Der Himmel über Berlin. Inzwischen ist es mir dort, trotz Engeln, ein bisschen zu düster und ich suche eher nach Plätzen an der Fensterfront zum Kulturforum.

Aber es ist immer voll hier, die mehreren Hundert Arbeitsplätze sind am späten Mittag, wenn ich eintreffe, meist alle schon besetzt und ich muss suchen gehen. Jetzt habe ich einen Winkel gefunden, der wohl erst kürzlich für die Allgemeinheit geöffnet worden ist: die ‚Leselounge‘, ausgestattet mit Sesseln und Couches, die, ebenfalls auf einem der eleganten Balkone, am Südende des Saals angesiedelt ist. Ein paar Wochen lang habe ich hier immer einen sonnigen Platz gefunden, heute zum ersten Mal ist es auch hier richtig eng.

Selfie mit Blick von der Lounge (Foto: lorenzlm)

Die Arbeit in der Stabi gehört zu meinen beglückendsten Großstadterfahrungen. Ich hatte das Privileg, im Laufe der Zeit an vielen interessanten und schönen Orten zu arbeiten: Meine Doktorarbeit habe ich in der etwas düsteren Bodenstedtkaserne in Hamburg-Altona geschrieben, wo es wegen der dort ebenfalls ansässigen Meeresbiologen immer ein wenig nach Fisch und Seetang roch. Bei SPIEGEL ONLINE habe ich eine Zeitlang im expressionistischen Hamburger Chilehaus von Friedrich Höger gearbeitet (von außen eindrucksvoller als von innen). Dann das geschichtsträchtige Büro bei der ZEIT im Speersort gleich um die Ecke. Und schließlich der spektakulärste Ausblick meiner Laufbahn aus einem Eckbüro im 30. Stock des mittlerweile abgerissenen Deutsche-Welle-Towers am Kölner Raderberggürtel, wo ich mit einem kleinen Team das Onlineportal Qantara an den Start gebracht habe. Aber keiner dieser Orte ist mit dem Lesesaal von Hans Scharouns Berliner Staatsbibliothek zu vergleichen.

Die charakteristische Geräuschkulisse des Saals, diese leicht verhallte emsige Stille, unterbrochen nur durch ein gelegentliches Räuspern, das Klappen von Buchdeckeln oder Rascheln von Notizpapier, ist von der Medienmissenschaftlerin Hannah Wiemer ‚akustisch vermessen‘ worden, es gibt sie auf CD (Sounds of Stabi) zu erwerben. So kann man versuchen, den hypnotischen Sog dieser Klangumwelt auch zuhause zur Konzentrationsförderung einzusetzen. Aber es gehört natürlich mehr dazu: Vor allem der optische Eindruck des gewaltigen Raums, der einem in immer neuen Blickwinkeln zugleich anheimelnd und abwechslungsreich begegnet, wie von selbst immer wieder neue Räume aufmacht, jeder für sich ein Erlebnis. Das Auf und Ab über die breiten Stufen und Treppen, die die vielfach abgestuften Ebenen miteinander verbinden. Der Einfall des Sonnenlichts, das vor allem in den Abendstunden die komplexen Gestalten und Strukturen des Ensembles hervorhebt.

Was Scharoun hier gelungen ist, grenzt an ein architektonisches Wunder: Eine überlebensgroße und dennoch durch und durch humane Raumumgebung zu schaffen. So könnte Stadt generell aussehen, so könnte sie funktionieren. Stattdessen bekommen wir, gerade hier in Berlin, nur noch trostlose Monotonie geboten, wie die erbärmliche Europacity nördlich des Hauptbahnhofs.

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